НОВОСТИ      29.11.2024

Valerij Dill: „Unsere Hauptanstrengungen richten sich auf den Erhalt der nationalen Identität der Deutschen in Kirgisistan, auf das Erlernen der Sprache und Kultur.“

Wir haben mit dem Vorsitzenden des Volksrats der Deutschen in Kirgisistan – Valerij Dill über die Perspektiven der Zusammenarbeit zwischen Kirgisistan und Deutschland, das Leben der deutschen Gemeinschaft im Land und die Möglichkeiten für die Jugend, die deutsche Sprache zu lernen, gesprochen.

– Lassen Sie uns ein wenig über die Geschichte der Deutschen in Kirgisistan sprechen. Wie sind sie hierhergekommen?

– Diese Frage ist meiner Meinung nach heute äußerst relevant. Warum? Weil die Jugend Kirgisistans, die neue Generation, aber auch die Elite des Landes sich immer häufiger fragen: Wie kamen die Deutschen nach Kirgisistan? Es scheint erstaunlich zu sein – Europäer, Deutschland, und plötzlich sind die Deutschen hier, in Zentralasien.
Doch diese Geschichte reicht mehr als 200 Jahre zurück. Die ersten Deutschen, die Mennoniten, erschienen im Talas-Tal, nachdem sie aus dem Russischen Reich umgesiedelt wurden. Dieser Prozess wurde durch ein Manifest von Katharina der Großen im Jahre 1763 initiiert. Katharina, die selbst ursprünglich Deutsche war, lud ihre Landsleute ein, freies Land in der Wolgaregion zu besiedeln. Die Umsiedlung dauerte mehr als hundert Jahre.
Später, als das zaristische Russland die Lebensbedingungen für die Deutschen änderte, begannen viele von ihnen, neue Gebiete zu suchen, in denen sie sich ihre Religion frei bekennen konnten. So kamen sie ins Talas-Tal. Weitere historische Ereignisse, wie die Revolutionen, die Kollektivierung, der Erste Weltkrieg und vor allem der Erlass vom 28. August 1941, der etwa 900.000 Deutsche aus der Wolga, der Ukraine und anderen Regionen nach Zentralasien umsiedelte, spielten ebenfalls eine Rolle. So fanden die Deutschen massenhaft ihren Weg nach Kirgisistan und Kasachstan.
Laut der Volkszählung von 1989 lebten mehr als 102.000 Deutsche in Kirgisistan – das war der Höhepunkt ihrer Anzahl im Land. Früher gab es in Kirgisistan ganze deutsche Dörfer, und in einigen Städten betrug die Anzahl der Deutschen mehr als 40% der Bevölkerung. Doch heute ist die Zahl der deutschen Gemeinschaft erheblich gesunken. Etwa 10.000 Deutsche leben im Land. Die offiziellen Daten der Volkszählung geben eine Zahl von 8240 Menschen an, aber wenn man auch die Kinder unter 16 Jahren berücksichtigt, erreicht die Gesamtzahl etwa 10.100 Menschen. Es gibt keine deutschen Siedlungsgebiete mehr. Ihr Leben konzentriert sich heute hauptsächlich rund um die Gesellschaft der Deutschen in Kirgisistan, wobei das Kirgisisch-Deutsche Haus der Freundschaft und Zusammenarbeit eine Schlüsselrolle spielt.
Wir legen größten Wert auf den Erhalt der nationalen Identität: der Sprache, Kultur, Bräuche und Traditionen. Ein weiterer wichtiger Bereich unserer Tätigkeit ist die humanitäre und wohltätige Arbeit. Der dritte, nicht weniger bedeutende Aspekt,
ist die Stärkung der „Brücke“ der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Kirgisistan und Deutschland.
Ich möchte betonen, dass Deutschland das einzige Land ist, das sich ernsthaft um die Deutschen im Ausland kümmert. Wir sind immer als eine Art Brücke der Freundschaft zwischen unseren Staaten aufgetreten. Genau das, meiner Meinung nach, erklärt, warum Deutschland als erstes die Unabhängigkeit Kirgisistans anerkannt hat und es in seinem Weg zur Staatsbildung unterstützt hat. Wir entwickeln die Zusammenarbeit weiter, schaffen neue Formen der Interaktion und bemühen uns, den Deutschen, die aus Kirgisistan nach Deutschland ausgewandert sind, zu helfen, die Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen hier zu fördern. Dieser Bereich ist für uns prioritär geworden.

Wie denken Sie, warum gibt es so eine starke Auswanderung der Deutschen aus Kirgisistan?

Es gibt viele Gründe für die Auswanderung der Deutschen aus Kirgisistan. Erstens: die Deutschen wurden nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs zu Außenseitern – sie wurden als Feinde wahrgenommen, und das Stereotyp „Deutscher = Faschist“ hatte sich tief im Bewusstsein der Menschen verankert. Dieser Stereotyp verfolgte lange die ältere Generation. Danach folgten Repressionen des Jahres 1937 und die massenhaften Umsiedlungen. Als die Repressionen 1956 endeten, war die Hälfte der deutschen Bevölkerung verloren. Angst und Demütigung hinterließen tiefe Spuren, und in den 1990er Jahren, als die Demokratie nach Kirgisistan kam, fühlten viele Deutsche, dass es an der Zeit war, ein neues Leben zu suchen.
Im Jahre 1991 öffnete Deutschland seine Grenzen für die Opfer des Zweiten Weltkriegs, und es wurde ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Dies ermöglichte die Auswanderung. Und die Auswanderung der Deutschen aus Kirgisistan begann mit beeindruckender Geschwindigkeit. Bis zu 10.000 Menschen verließen jährlich das Land. Dieser Prozess war nicht einfach eine Migration, sondern eher der Versuch, die Zukunft ihrer Kinder inmitten der wirtschaftlichen Krise in Kirgisistan zu retten: Fabriken und Werkstätten wurden geschlossen, Kolchosen und Sowchosen zerfielen, und die Renten waren so niedrig, dass man kaum davon leben konnte. Angesichts der Instabilität und der Angst vor einer möglichen Rückkehr des Kommunismus entschieden sich viele, nach Deutschland auszuwandern.
Doch das Leben für die Deutschen in Deutschland war nicht so einfach. Die junge Generation, die in Deutschland geboren wurde, assimilierte sich schnell, aber für die älteren war es schwierig, sich anzupassen. Vor allem war es mit der Nostalgie und dem Heimweh verbunden, weil sie die Heimat verlassen hatten, wo noch Freunde und Bekannte lebten. Man muss betonen, dass Deutsche und Kirgisen immer in Frieden und Freundschaft miteinander lebten, und das kirgisische Land wurde für sie in schweren Zeiten zu einem Zufluchtsort. Als die Menschen auswanderten, taten sie dies mit Tränen in den Augen. Heute ist der Auswanderungsprozess praktisch zum Stillstand gekommen, obwohl er in kleinerem Maßstab weiterhin besteht. Die geopolitische Situation in der Welt hat sich verändert, und es stellt sich erneut die Frage: Was machen wir weiter?
In Deutschland werden wir als „Volk auf dem Weg“ bezeichnet. Wir sind aus Russland umgesiedelt, dann nach Kirgisistan, Kasachstan, Tadschikistan, und jetzt kehren wir nach Deutschland zurück, während einige wieder nach Russland ziehen. Es ist ein einzigartiges Volk, das auf seiner langen Reise die Kulturen der Völker aufgenommen hat, mit denen es zusammenlebte. Die junge Generation in Deutschland ist bereits ein Teil der deutschen Gesellschaft geworden, doch die ältere Generation sucht immer noch nach Antworten auf die Frage: Wie bewahren wir unsere Identität?
Leider ist die politische Situation in Deutschland derzeit nicht sehr vorteilhaft. Unsere Deutschen, die eher konservativ und religiös sind, schätzen die Familie als Grundlage des Lebens. Gerade durch die Familie, kompakte Siedlungen und die Kirche wurden ihre Kultur, Bräuche und Sprache bewahrt. Doch heute gibt es in Deutschland gravierende Veränderungen, die im Widerspruch zu den traditionellen christlichen Prinzipien stehen, was in unserer Gemeinschaft Besorgnis auslöst.
Es ist zu beachten, dass ein Fehler der russischen Politik darin bestand, dass nach 1956 alle verfolgten Völker rehabilitiert wurden, außer den Deutschen. Den Deutschen wurde es nicht gestattet, in ihre vor dem Krieg bewohnten Gebiete zurückzukehren, und das war meiner Meinung nach ein großer politischer Fehler. Wenn russische Politiker in den 90er Jahren darauf geachtet hätten, hätten vielleicht viele Deutsche das Land nicht verlassen.

– Sie persönlich haben eine Entscheidung getroffen, in Kirgisistan zu bleiben. Warum?

– Die Frage, warum ich mich entschieden habe, aus Kirgisistan nicht auszuwandern, ist in der Tat nicht einfach. Im April 1991 besuchte ich zum ersten Mal Deutschland als Teil einer offiziellen Delegation mit dem ersten Präsidenten des Landes. Zu der Zeit war ich Abgeordneter des Obersten Rates, und diese Reise hat einen großen Eindruck auf mich gemacht. Deutschland schien mir wie ein Märchenland – blühend, wohlhabend, mit einer erstaunlich gut organisierten Gesellschaft. Ich war erstaunt, wie die Deutschen es geschafft haben, einen so erfolgreichen Staat aufzubauen. Aber damals wurde mir klar, dass dies nicht mein Verdienst war. Das war nicht das Land, das ich mit aufgebaut hatte.
Ich habe verstanden, dass mein Platz hier in Kirgisistan ist und dass es meine Pflicht ist, alles zu tun, um die Entwicklung meines Heimatlandes voranzutreiben. Zunächst ging es darum, neue Technologien einzuführen, gemeinsame Unternehmen zu gründen und humanitäre, medizinische sowie soziale Projekte auf kirgisischem Land zu entwickeln. Diese Gedanken bildeten die Grundlage für unser langfristiges Programm, an dem wir weiterhin arbeiten.
Wenn wir über unsere Projekte sprechen, dann haben wir seit 1991 ein einzigartiges Kooperationsmodell mit Deutschland aufgebaut. Ich kenne kein anderes Land, das eine solche Form der Zusammenarbeit wie Kirgisistan hat. Wir haben praktisch alle Bereiche der Volkswirtschaft, der sozialen Sicherung und des Gesundheitswesens abgedeckt. Deutschland hat uns kontinuierlich Unterstützung im Kampf gegen Tuberkulose und HIV sowie bei Fragen der Mutter-Kind-Gesundheit gewährt. Mit dieser Hilfe bauen und rüsten wir Krankenhäuser aus.
Darüber hinaus haben wir Projekte im Bereich der grünen Wirtschaft und der Energie. Wir setzen sechs Programme um, die darauf abzielen, die Sprache, Kultur und Traditionen zu bewahren, und arbeiten aktiv mit der Jugend, den Kindern und der älteren Generation. Ich möchte betonen, dass unsere Gesellschaft sich von anderen unterscheidet. Wir handeln unter dem Motto: „Durch die Deutschen an alle Bewohner Kirgisistans“. Wir beschränken unsere Tätigkeit nicht nur auf die Interessen der deutschen Gemeinschaft. Die Türen unseres Deutschen Hauses stehen offen für alle, die sich für Kultur interessieren.
Jedes Jahr im Oktober veranstalten wir eine große Konferenz, auf der wir die Pläne für das nächste Jahr besprechen und das Budget festlegen. Wir stellen Anträge auf Finanzierung aus dem deutschen Haushalt über das Innenministerium, das übrigens anders ist, als das kirgisische. Dort betreuen sie Sport, Jugendarbeit und nationale Minderheiten. Wir akquirieren auch Mittel aus anderen Quellen, um unsere Projekte umzusetzen.

Und wie steht es mit der Bewahrung der deutschen Sprache?

Wie ich bereits zuvor erwähnt habe, ist dieses Problem in der Tat vorhanden. Um seine Wurzeln zu verstehen, sollten wir in die Zeit zurückblicken, als es noch deutsche Siedlungsgebiete gab. Damals hatten wir Kindergärten und Schulen, in denen auf Deutsch unterrichtet wurde. Die deutsche Identität basierte immer auf drei wesentlichen Elementen: der Familie, den Siedlungsgebieten und der Religion. Leider gibt es diese Siedlungsgebiete heute nicht mehr, und viele Familien werden gemischt. In unseren Kirchen wird es immer häufiger auf Russisch gepredigt. In gewissem Maße tut es mir leid, dass dies so ist, aber es ist äußerst schwierig, diesen Prozess zu stoppen.
Warum ist das so? Es hat viel mit dem Assimilationsprozess zu tun. Die junge Generation wächst auf, und es kommt der Moment, in dem die Jugendlichen anfangen, eigene Familien zu gründen. Und oft ist es so, dass ein junger Mann eine Braut aus einer anderen Nationalität mit nach Hause bringt. Wenn wir ihm sagen: „Sohn, du musst die Traditionen bewahren…“, sagt er: „Papa, das ist die Liebe.“ Und da kann man nicht widersprechen. Das Herz lässt sich nicht befehlen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Liebe das internationalste Gefühl ist. Es spielt keine Rolle, welche Nationalität du hast, wenn du liebst.
Das ist einer der Hauptfaktoren der Assimilation. Ich habe bereits globale Themen angesprochen, wie die Geopolitik und den Einfluss anderer Länder auf Kirgisistan.
Jetzt beobachte ich, dass im Land eine aktive Wiederbelebung des Nationalbewusstseins stattfindet, und das ist gut. In der Sowjetzeit war Patriotismus und nationale Stolz in gewissem Maße unterdrückt, aber mit der Ankunft der Demokratie ist dieses Element wieder stärker sichtbar. Wenn das nicht geschehen wäre, könnte sich das Volk nicht wieder erheben. Das Einzige, was man vermeiden möchte, sind extreme Tendenzen in dieser Richtung. Aber insgesamt sehe ich, dass die Gesellschaft in die richtige Richtung geht.
Ich habe lange Zeit hohe politische Positionen in Kirgisistan bekleidet und bin der Meinung, dass jede Kritik mit Selbstkritik beginnen sollte. Daher muss man zuerst sich selbst und seine eigenen Taten betrachten.“

Ich nehme an, dass es für die deutsche Gemeinschaft heute besonders wichtig ist, die deutsche Jugend, die in Kirgisistan wohnt, zu motivieren, damit sie sich zumindest mit dem Erlernen der Sprache beschäftigt. Was muss dafür getan werden, um dieses Interesse zu wecken? Kann man das Deutsche Haus besichtigen? Was Interessantes bietet Ihr Programm für die Jugend an?

Heute wird in den meisten Familien nicht mehr auf Deutsch gesprochen. Deshalb ist die Frage der Motivation für unsere deutsche Jugend besonders wichtig. Es ist schon fast komisch, aber die kirgisische Jugend zeigt mehr Interesse am Erlernen der deutschen Sprache als die jungen Deutschen in Kirgisistan. Die Hauptmotivation, die Sprache zu lernen, liegt momentan in den Möglichkeiten, die Deutschland anbietet: die Chance, eine Ausbildung zu erhalten, nachgefragte Fachrichtungen zu studieren und Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Zum Beispiel, wir haben eine deutsche Fußballschule eröffnet, in der Kinder Fußball spielen, aber dabei auf Deutsch sprechen. Die Lehrer ermutigen die Kinder gezielt, die Sprache spielerisch zu nutzen. Wir veranstalten auch verschiedene Events, bei denen die Jugend Deutsch praktizieren kann. Dies können wir mit einer soliden Note „Drei“ bewerten, aber es gibt noch viel Potenzial zur Weiterentwicklung.
Früher, zu Sowjetzeiten, wurde Deutsch in allen Schulen unterrichtet. Heute gibt es in Kirgisistan nur noch sieben Schulen, in denen die Sprache weiterhin unterrichtet wird. Leider verliert die deutsche Sprache an Einfluss, und das passiert nicht nur bei uns, sondern auch in Kasachstan, Russland und anderen Ländern. Aber wir haben ein Programm entwickelt, das darauf abzielt, die Sprache zu unterstützen. Auf der Grundlage des Deutschen Hauses haben wir ein Zentrum für die deutsche Sprache eingerichtet, das mit moderner technischer Ausstattung ausgestattet wurde, um das Lernen auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen.
Die Motivation, Deutsch zu lernen, existiert nach wie vor. Deutschland bleibt für uns ein wichtiges Land, mit dem wir historische Verbindungen haben. Unsere Jugend fährt dorthin, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern und an Bildungsprogrammen teilzunehmen. Das ist die Motivation, die hilft, das Interesse an der deutschen Sprache und Kultur zu bewahren.“

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